Formatradio oder Radio mit Format?

Über die Durchstrukturierung von Radioprogrammen und die Lancierung von Radio Eins

Neue Radio-Zeiten: Vom Vollprogramm zum Programmprofil
------------------------------------------------------

Lutz Ackermann, lange Jahre Musikchef von NDR 2, hat einmal gesagt: "Formatierung ist, wenn man ein Radioprogramm an der Musik wiedererkennt." Das Format eines Programmes wird in der Tat oft mit dessen Musikprofil gleichgesetzt. Eine Ansicht, die seit dem Erfolg von Informations- oder Talk Radios revidiert werden muß1.
Mit Hans-Dieter Hillmoth, Geschäftsführer vom hessischen Radio FFH, könnte man die Defintion folgendermaßen erweitern: "Formatradio ist, wenn das gesamte Radioprogramm ein einheitliches Layout hat, d.h., daß alle Programmbestandteile genau festgelegt sind."
Nun könnte man sagen, Radioprogramme hatten schon immer irgendein Format, und das stimmt natürlich insofern, als das jede Sendestunde eine gewisse Struktur braucht. Doch seit die Vollprogramme auf dem Rückzug sind, Programme die das ganze Spektrum von Information, Bildung und Unterhaltung für die ganze Familie anbieten, hat die Formatierung des Radios an Bedeutung zugenommen2.
Es handelt sich nämlich inzwischen um ein Gestaltungsprinzip, das alle Programmelemente nach Art, Umfang, Darbietungsform und Sendeplatz so genau festlegt, daß ein ganz bestimmtes Outfit den gesamten Programmablauf prägt, auszeichnet.
Knackpunkt ist, daß die Hörer und Hörerinnen, wann immer sie sich einschalten, das Programm wiedererkennen können sollen.
Die formatierten Radiodesigns kommen aus den USA. Da es sich bei dem amerikanischen Markt um einen von privaten Anbietern absolut dominierten Markt handelt, ist die Segmentierung viel weiter fortgeschritten als auf dem deutschen Markt. Bei 10 000 Radiostationen gilt es, ein möglichst unverwechselbares Programm zu entwickeln.
Formatierung wirkt sich in unterschiedlidhem Maße und mit von Programm zu Programm variierender Strenge aus auf:
  • 1. die Auswahl von Musiktiteln nach Hitlisten, nach Klang- oder Gesangsfarben, nach Länge.
  • 2. die Auswahl von Wortbeiträgen nach Aktualität, Brisanz, Tempo, Länge und natürlich ihrer Kompatibilität mit dem Musikprofil.
  • 3. Stil und Länge von Moderationen, der Präsentation des Programmes
  •  

    Musikprofile
    ------------

    Die Durchformatierung des Musikprofils wird mit unterschiedlichem Aufwand betrieben. Für den amerikanischen Hörfunk gibt es rund 100 Musikformate. Zu den fünf erfolgreichsten zählen folgende3:
  • Adult Contemporary (AC)
    AC ist das am häufigsten gewählte Musikformat, Zielgruppe sind jene, die in den 60ern bis 80ern Jugendliche waren, und den Boom der Rock- und Popmusik miterlebten. Diese Gruppe von 25- bis 49jährigen gilt als kaufkraftstärkste. Sie gilt auch als relativ festgefahren was ihre Hörgewohnheiten anbelangt, weshalb sich viele Programme auf die Hits aus den 80ern, den 70ern und den 60ern konzentrieren. Das ist auch das wichtigste Musikprofil des Berliner Radiomarktes. Es wird bedient von 88,8, Berliner Rundfunk ("Mega Hits"), 94 3 r.s.2 (der "Fifty-Fifty Mix"), Energy, 104,6 und in nicht ganz so konzentrierter Form auch von anderen Programmen4. Insgesamt ist das AC-Format in Deutschland breiter gefächert als in den USA.
  • Contemporary Hit Radio (CHR)
    In den Staaten erreicht das CHR-Format die zweitgrößte Zielgruppe, die 14- bis 24jährigen. Dieses Format spielt vor allem Aktuelles, "trendy Music", und erreicht damit das von den Werbetreibenden begehrte junge Publikum. Die Play-Lists sind meist ziemlich begrenzt und orientieren sich teils an den Charts, teils an neuen Trends wie TechnoPop, Hip Hop, Dancefloor, seltener auch Drum 'n Bass, Alternative oder gar Postrock. In Berlin stehen Zielgruppenprogramme wie Fritz und KISS FM vor allem für dieses Trendsetter-Format .
  • Album Oriented Rock (AOR)
    Programme mit diesem Format sind weniger Single-orientiert, bei ihnen werden auch Rock-Nummern gespielt, die auf Alben eine Single wert gewesen wären. Zielpublikum sind vor allem männliche 18-34jährige Hörer, für die Rockmusik ein Lebensgefühl ist. Diese in Deutschland vernachlässigte Zielgruppe wird auch von Radio Eins anvisiert (Motto "40 Jahre Rockgeschichte"). Während die Magazinsendungen bei Radio Eins vor- und nachmittags von einer Mischung aus AOR, AC und CHR begleitet werden, sprechen die Musikspecials am Abend und in der Nacht gezielt das AOR-Publikum an . Für diesen Schwerpunkt stehen denn auch namenhafte Moderatoren wie John Peel oder Alan Bangs. Auch Fritz und MultiKulti bedienen dieses Segment in den Abend- und Nachtstunden mit Sendungen wie "Soundgarden" bzw. "John Peels Radio Show".
  • Selektoren, Playlists und Rotationen
    ------------------------------------

    Der Dreh- und Angelpunkt von formatierten Radioprogrammen sind für den Musikbereich die Playlists. Orientierungspunkte sind vor allem für die Formate AC und auch CHR die Charts, in denen sich allwöchentlich die Airplays oder die Verakufszahlen der Singles widerspiegeln5. Ein zweiter Mechanismus, der zur Bestimmung inzwischen massiv eingesetzt wird, ist der der Marktforschung. Hörer-Pools werden befragt, um den Erfolg von Einzeltiteln, aber auch Musikfarben oder Titelkombinationen zu ermitteln - ein kostspieliges Verfahren6.
    Fast alle Musikformatradios arbeiten inzwischen mit einem Selektor, einem Computer, der alte und neue Titel nach vorgegebenen Formatkriterien sortiert, einordnet, listet. Die meisten Selektorenprogramme beinhalten meist nicht mehr als ein paar hundert Titel auf einmal. Bei Radio Eins war man mit dem Ziel angetreten dieses Schmalspurformat zu durchbrechen - mit einem 20 000 Titel umfassenden Selektor. Das Ziel ist bisher um einige Tausend Titel noch nicht erreicht.
    Aus diesem aber inzwischen schon mindestens 5000 Songs umfassenden Pool wird die B-Liste zusammengestellt. Darin befinden sich 50 Titel die schon nicht mehr aktuell sind, aber für das Profil so wichtig, daß ihre regelmäßige Rotation garantiert sein soll.
    Da die Wiedererkennung eines Programmes unmittelbar mit den Songs zusammenhängt, die mit dem Profil identifiziert werden, muß ein Radiosender dafür sorgen, daß seine Hörerinnen und Hörer mit bestimmten Titel "grundversorgt" werden. Deshalb gibt es eine feste Anzahl von Airplays, die wichtige Titel in einer Woche haben müssen. Bei Radio Eins "rotieren" die Songs der B-Liste mindestens zwei Mal die Woche.
    Songs der A-Liste haben eine Frequenz von 6 mal die Woche. In der A-Liste befinden sich zum einen ganz aktuelle Titel, Hits, sofern sie in das Rockgenre passen (Radiohead, Oasis, The Verve, Rolling Stones), oder aktuelle Pophits, wenn sie nicht allzusehr in dem Terrain von Antenne Brandenburg oder r.s.2 angesiedelt sind. Aber auch neue, nicht in den Top Ten vertretene Songs können sich in der "A-Klasse" behaupten, sofern sie aus dem Blues, Rock oder Qualitätspop-Bereich kommen. (Paul Simon, Edwin Collins). Die A-Liste umfaßt 20 Titel, die B-Liste fast 50.

    Profil durch Präsentation - Wort und Musik in formatierten Stundenuhren
    -----------------------------------------------------------------------

    Der Kampf um das erfolgreiche Profil wird auf allen Ebenen geführt, nicht zuletzt auf der der Präsentation: mit einer Fülle von Jingle-Varianten, mit Moderationsprofilen, sei es durch Personenkult oder Doppelmoderationen, und natürlich mit jeder Menge Gewinnspiele.
    Eienrseits verlangt der Wettbewerb um ziemlich breitgestreute Zielgruppen danach, daß die Programme ihr "Channel-Face" zeigen, anderseits werden strukturell dazu die gleichen Mittel angewandt. Das führt gerade bei identischen oder fast identischen Zielgruppen eher zur Konvergenz als zur Divergenz der Formate.
    Wort- und Musikkomponenten werden je nach Programm relativ gleichmäßig in der Stunde zwischen den Nachrichtenblöcken positioniert, so daß sich daraus ein einheitlicher Programmablauf bildet, der den Hörerinnen und Hörern das "Ein- und Aussteigen" leicht macht.
    Diese Durchformatierung läßt sich deshalb anhand einer Stundenuhr ganz gut verdeutlichen. Meist besteht sie bei öffentlich-rechtlichen Programmen aus Zweidritteln Musik und einem Drittel Wort. Das ist auch bei Radio Eins etwa der Fall. Bei kommerziellen Anbietern ist das Verhältnis in der Regel Dreiviertel Musik zu einem Viertel Wort. In dieser Uhr immer an gleicher Stelle: Natürlich die Nachrichten, das Wetter, der Verkehr.
    Bei Radio Eins gibt es neben diesen strukturierenden Positionen stündliche Service-Blöcke (dazu gehren die Rubriken "Tonträger der Woche", Veranstaltungs-, Film- und Buchtips), Promotion für präsentierte Veranstaltungen und drei Wort-Positionen.
    Das klassische Kästchenprinzip der Vollprogramme ist bei den meisten Formatprogrammen zugunsten 2-3stündiger Magazinsendungen, die über die Woche relativ gleich gestaltet sind, verschwunden. Musiktitel, die während dieser Magazine gespielt werden, haben selten eine Länge über 3-5 Minuten, Wortbeiträge liegen zwischen 2,5-3,5 Minuten, Nachrichten stehen meist für sich.
    ""Man kann über alles reden, nur nicht über fünf Minuten", stellte Mitte der Siebziger SWF 3- Programmchef Gert Haedecke programmatisch fest. Man sollte vielleicht sein Motto aktualisieren und "nur nicht über dreidreißig" hizufügen. Das jedenfalls ist für die meisten Formatradios die Schallmauer für Wortbeiträge geworden. Bei Radio Eins gibt es durchaus noch Beiträge, die über dieses Format-Limit hinausgehen.
    Auch die Musik wird in der Stundenuhr gezielt plaziert: nach Tempo, nach Stimmung, nach Geschlecht der Interpreten, nach Intro, nach Gesamtlänge. Die Zusammenstellung übernimmt oftmals ein Computer. Bei den Magazinsendungen auf Radio Eins gilt das nur für die Titel der Magazinsendungen (die Musikspecials stellen selbstredend die Moderatorinnen und Moderatoren selbst zusammen), wobei jede Stundenuhr noch einmal von Redakteuren überarbeit wird.

    ----------------------------------------------------

    1 News und Talk Formate (Spartenprogramme) haben in den USA immerhin einen Marktanteil von 7,5 %.

    2 Mit Radio Brandenburg verwschwand im Sommer '97 der letzte "Gemischtwarenladen", das letzte klassische öffentlich-rechtliche Vollprogram mit einem Spektrum von E- bis U-Musik, Kirchen-, Kinder-, Umwelt-, Politik-, Kultur- und Musiksendungen.

    3 Unberücksichtigt bleiben bei diesen Formatbeispielen Special-interest-Designs, die etwa als Klassik- oder Jazz-Radio explizite Musikinteressen ansprechen.

    4 Wobei man Sender wie 88.8 oder Spreeradio insofern herausnehmen muß, als das sie teilweise oder sogar ausschließlich deutsche Schlager spielen. Bundesweit gesehen ist das "Schlager-Format" übrigens ein sehr erfolgreiches Format, erfolgreicher noch als AC-Formate, die sich hauptsächlich auf englischsprachige Titel konzentrieren, erfolgreicher auch als Formate für jüngeres Publikum.

    5 Bei N-Joy-Radio, ein mit Fritz vergleichbarer Sender des NDR, der für das junge Marktsegment ins Leben gerufen wurde, werden pro Tag etwa 180 Titel gespielt. Nur zehn davon sind älter als fünf Jahre. Mit jeweils gleichen Anteilen decken die Musikrichtungen Techno, Disco/Dancefloor und Pop zu Drei Vierteln das Musikangebot ab. Die Titel sollen einen möglichst hohen Wiederererkennungswert haben, über die Hälfte werden als bekannt, ein wieteres Viertel als sehr bekannt eingestuft. 76 Prozent der codierten Titel können einen Charterfolg in den Top 30 Airplay Charts aufweisen.

    6 Bei der Lancierung von N-Joy-Radio, mit dem der NDR seit 1995 im Segment der 19-24jährigen wieder Terrain gutmachen konnte, wurden so z.B, umfassende Sekundäranalysen zu Jugendverhalten herangezogen. Außerdem entwickelte der NDR eine Formatablaufanalyse, mit der insbesondere die Fragen des Tempos und der dynamischen Dichte der Programe analysiert wurden. Dazu gab es sogenannte explorative Studien, Kleingruppengespräche mit Jugendlichen von unterschiedlichen Alterssegmenten. Die Lancierung von N-Joy-Radio hatte einen Vorlauf von 5 Jahren. Aus diesen Analysen entstand ein NDR-Trendmonitor, der jeweils den aktuellsten Stand über Themenpräferenzen, Hörsituationen, Freizeitverhalten sowie Aspekte jugendlicher Lebensstile diagnostizierte. Dazu gab es einen ständig aktualisierten Musikpool, der seit Anfang 1994 sogenannten Burn-in/ Burn-Out-Tests unterzogen wurde.
    Knapp ein halbes jahr nach Lancierung des Gemeinschaftsprogrammes von ORB und SFB, wertete Radio Eins intern eine erste explorative Studie zur Akzeptanz/Kritik des neuen Programmes aus. Der Pool der Befragten umfaßte 1000 Hörerinnen und Hörer.