"Kleine Chronik der Osterwoche"

Hörspiel von Christa Reinig

Thesenpapier für die Sitzung vom 29.06.1999 "Macht II"
im Seminar "Stadt und Seuche" , SS 1999 bei Olaf Briese/ Olaf Kriseleit
von Susanne Kischitzki



Kleine Chronologie

1953          Volksaufstand 17. Juni in der DDR
1960          Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in LPGs
1961           Bau der Berliner Mauer am 13. August zur Beendigung der Fluchtbewegung in den Westen

1961-1970: 7. Pandemie der Cholera (El-Tor-Virus)

"The pandemic that began in 1961 [...] has also invaded Europe, North America and Japan, where the outbreaks have been relatively restricted and self-limited because of more highly developed sanitation." (R. A. Finkelstein)

1962           mutmaßliche Cholera-Epidemie in Ost-Berlin, das Hörspiel wird geschrieben
1964           C. Reinig geht in den Westen
1970           Produktion und Sendung des Hörspiels


Thesen

1. Zwischen dem Leidensweg Jesu (Einzug in Jerusalem, Gefangennahme, Kreuzigung und Auferstehung), den Stationen, welche die Cholera durchläuft und der "Entwicklung" der Stadt bestehen zeitliche Übereinstimmungen:
Sonntag Palmarum (Palmsonntag)  Donnerstag Freitag  Ostersonntag
Jesus reist von Betanien nach Jerusalem und wird als Messias gehuldigt Abend: Paschamahl Jesu

mit seinen Aposteln 

Mitternacht: Judas führt das jüdisch-römische Verhaftungskommando zum Ölberg

Jesu wird etwa um die Mittagsstunde gekreuzigt und stirbt "gegen Abend" 

(etwa um 15 Uhr)

Auferstehung Jesu
Cholera betritt die Stadt Cholera bekommt vom Herrn den Auftrag, die Stadt zu erobern und bittet den Sohn um Schlaf Cholera schläft

 

Cholera wird neue Herrin der Stadt 

 

Stadt krank, ißt nicht mehr die Stadt ist an den "Zustand" gewöhnt   Stadt wach und hungrig

 

Winter (Kälte, Schnee) Osterschnee   Sommer

Trotz "moderner Attribute" (U-Bahn-Schächte, Reisverschlüsse etc.) beschwören die Mauer-Metaphern ("Schutzwall" [Oberarzt], "sieben Stacheldrähte" [Cholera]) das Bild der abgeschlossenen, engen, mittelalterlichen Stadt herauf.
Die "Krankheit" der Stadt zeigt sich in der fragwürdigen Einstellung ihrer Bewohner: In der Absurdität der "öffentlichen Diskussion" des "Gerüchts" auf der "Geheimsitzung der Partei" (Kommissar), in dem Offizier, der Lügen für seine Pflicht hält, in dem Messerstecher, der die Staatsanwälte und Volksrichter der Gaunerei und Zuhälterei bezichtigt, in dem Oberarzt, der ein absurdes Gerücht über die Ursache der Seuche in Umlauf bringt ("mit Bakterien infizierte Marienkäfer", die über den Schutzwall geworfen wurden, brachten die Seuche), in dem Tyrannlein, das merkwürdige Andeutungen macht, aber nie seine Karten offen legt.

2. Das Militär begrüßt die Cholera, weil sie den Staat ordnet und für Zucht und Ordnung sorgt, die Ärzteschaft, weil sie sich daran profilieren kann, der Priester, weil sie die Kirchen wieder füllt, nur der Kommissar wird handlungsunfähig, da er nur seine Instruktionen und Parteivorschriften kennt.

3. Religiöse Strategien des Umgangs mit der Cholera ("Urteile")

Christentum: Gerechtigkeit, Geduld, Erbarmen

Buddhismus (Student Buddha): Selbstheilung durch Gleichmut möglich, da Krankheit der Seele.

"Der Weg des Buddhismus ist der Weg der Auslöschung des Selbst und damit der Welt der Sinneswahrnehmungen." [Eliade, M.; Couliano, I. P.: Handbuch der Religionen, S. 267]

Judentum (Student Moses): Krankheit als Geißel zur Buße für das von Gott abgefallene Volk. Es bleibt nur, den Urteilsspruch anzunehmen und sich zu unterwerfen, auf daß der Herr die Geißel wieder fort nehme

Islam (Student Mohammed): Krankheit nicht als Geißel, sondern Gottesgeschöpf, das wie alle Lebewesen die Last schleppt, die ihr "vor dem Beginn aller Tage" vom Höchsten ist auferlegt worden. Der Tod durch die Cholera ist Bestimmung.

4. Geschlechterrollen: Alle wichtigen Positionen (Schaltzentralen der Macht) sind von Männern besetzt: Militär, Medizin, Politik, Religion. Die Stadt wird polyphon von Männern und Frauen verkörpert und dadurch neutralisiert. Die Cholera stellt die einzige wirklich bedeutende, beunruhigend unsterbliche, weibliche "Gegenmacht" dar, welche sich am Ende als alleinige Besatzungsmacht über die Stadt erhebt.
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Quellen/Links

Bacteriology 330 Lecture Topics: Cholera (Vibrio cholerae) by Kenneth Todar University of Wisconsin Department of Bacteriology

Cholera, Vibrio cholerae O1 and O139, and Other Pathogenic Vibrios by Richard A. Finkelstein

http://www.spectraweb.ch/~anikla/cholera.htm

Eliade, Mircea und Couliano, Ioan P.: Handbuch der Religionen. Artemis Verlag, Zürich und München 1991.

Mertens, Heinrich A.: Handbuch der Bibelkunde. Literarische, historische, archäologische, religionsgeschichtliche, kulturkundliche, geographische Aspekte des Alten und Neuen Testaments. Sonderausgabe Patmos Verlag, Düsseldorf 1997