Das Hörspiel, das wir heute abend senden, wurde 1962 während der Osterwoche in Ost-Berlin geschrieben. Zwei Jahre, bevor die Autorin, die Lyrikerin Christa Reinig, in die Bundesrepublik übersiedelte. Es entstand unter dem Eindruck einer Cholera-Epidemie, die damals Ost-Berlin heimsuchte. Die Autorin sagt darüber: "Ich faßte und verwarf immer wieder auf´s neue den Plan, die merkwürdigen Geschehnisse dieser Zeit aufzuzeichnen. Ich war erschreckt und abergläubisch und fürchtete, ich könnte durch diese Unternehmen die Seuche auf meine Person ziehen und selbst erkranken. Am Sonntag Palmarum ging ich, wie es ab und zu meine Gewohnheit war, auf einem großen parkähnlichen Friedhof spazieren. Da sah ich die neuen Gräber reihenweise, und der Friedhof war an allen Ecken bereits aufgegraben für die frischen Lieferungen. Daraufhin beschloß ich, die Chronik dieser Epidemie zu schreiben."

Aber was Christa Reinig schrieb, war kein Bericht, sondern ein literarisches Gleichnis. Die Cholera, zur Symbolfigur geworden, bemächtigt sich einer Stadt, die bisher andere allein zu beherrschen glaubten.

"Kleine Chronik der Osterwoche", ein Hörspiel von Christa Reinig

Am
Sonntag Palmarum betrat die Cholera unsere Stadt. Am frühen Morgen in Kälte, Schnee und unter den schwarzen Bäumen, gestellt vor der Stadtmauer, begrüßt mit einem Warnschrei und zwei Feuerstößen über ihrem Kopf hinweg, wurde sie in die Baracke geleitet. Ihr gegenüber saß ein Soldatchen von sehr schmutziger Beschaffenheit und sah sie an, ihre Flucht zu verhindern. Es spuckte an ihr vorbei und sagte:

So: Du armes Schwein. [gesprochen wie "Schwäin"]

Die Cholera schwieg. Das Soldatchen spuckte, pfiff und gähnte "Was willst du denn hier?"

So: Was willst du denn hier?

Die Cholera antwortete stockend und mit heiserer Stimme:

C: Hier wohnen.
So: Hier? Kann man nich wohnen.
C: Dies ist doch eine große Stadt. Und du wohnst doch auch hier?
So: Ich bin´s jewohnt.
C: Ich auch werde mich gewöhnen.
So: Was bist du für eine?
C: Ich bin die Cholera.
So: Da bist du hier richtig, - falls du es bist.
C: Ich bin´s.
So: Wer´s gloobt.
C: Glaub nur.
So: Du hast uns jefehlt.
C: So wurde es bemerkt. Und darum bin ich hier.
So: Jeh, rühr meine Hand an.
C: Wozu soll das gut sein?
So: Dann fühl ich an mir, ob du´s bist.
C: Willst du totgehen?
So: Halt ´de Schnauze. Tu was ich dich bitte.

Es geschah. Als das Soldatchen sein Inneres ausgekotzt hatte, hob es den Kolben seiner Schießmaschine so hoch, als wollte es die Cholera
zerstampfen. Doch der Kolben fiel zurück. Das Soldatchen beugte sich, ergriff die Cholera beim Ellenbogen, sprach:

So: Steh auf, Altchen. Es wird jerufen.

Die zweite Baracke war die des Offiziers. sie war grau angestrichen und hatte einen gemauertem Schornstein. Da stand ein Schreibtisch. Der Offizier saß daran. Er gähnte wie sein Soldatchen, denn es war sehr früh. Die Cholera begann:

C: Ich bin gekommen -
Of: Schon gut.
C: ... in dieser Stadt Quartier zu nehmen.
Of: Kannst du arbeiten?
C: Ich kann.
Of: Sehr viel arbeiten?
C: Tag und Nacht.
Of: Du wirst arbeiten, Tag und Nacht.
C: Ich bin die Cholera.
Of: Das wird sich erweisen, was du bist.
C: Sobald ich in der Stadt bin...
Of: Wirst du diesem faulen und niederen Volk, das ich und du verachten, zeigen was -
C: Du bist ein Offizier des Volkes?
Of: Du bist die Cholera des Volkes. Was wirst du brauchen zu deinem Dienst?
C: Laken und Eimer
Of: Das ist billig. Die Ärzte werden sich mühen, die Apotheker sich nicht um den Sonntagsdienst drücken, die Funktionäre werden funktionieren, der Staat
wird geordnet sein. Und das kostet uns nicht mehr als Laken und Eimer?
C: Und Offizierslaken und Offizierseimer im Offizierskrankenhaus der Volksoffiziere.
Of: Rattengift ist eine Art von Gift, nicht eine Art von Ratten. Volksoffiziere sind eine Art von Offizieren, nicht eine Art von Volk. Offiziere haben ein Bewußtsein, sie fallen nicht leicht der Cholera in die Arme.
C: Das kann ich nicht versprechen.
Of: Warum lügst du mich nicht an? Das erschwert mir meine Arbeit.
C: Zu lügen ist das Ende meiner Arbeit.
Of: Gleichgültig. Ich halte es für meine Pflicht -!

Die dritte Baracke war weiß. Der Oberarzt näherte sich persönlich der Cholera. Er zog sich Gummihandschuhe über, bohrte in ihrer Nase und entzog ihrem Leib Kot und Harn. Auf seine Frage und ihre Anwort ‘wer die sei’, rief er den Unterarzt und befahl, ‘diese spinnige Person fertigzumachen’. Er warf die Gummihandschuhe ab. Die Tür fiel hinter ihm zu. Dem Unterarzt sackten die Schultern zusammen. Sein Rücken krümmte sich und trug schwer an dem leichten weißen Kittel. Er stand und entfaltete ein Papier über den Tisch. Stand und griff sich einen Ring voll Stempel. Stand und Stempel auf Stempel knallte auf´s Papier. Stand und der Füller zögerte, dann kratzte die Feder über die Stempel hinweg. Der Unterarzt stand und reichte das Papier über den Tisch. Die Cholera saß und rührte das Papier nicht an. Sie sagte:

C: Er, er ist mein Feind.
U: Er ist Arzt und niemandens Feind.
C: Er haßt die, die ich bin.
U: Er bewundert sie. Er hat viel über sie gehört und gelesen. Sie war ihm eine Legende. Jetzt ist sie da und vor ihm und er schaut ihr innerstes Wesen, ihre Kraft und Herrlichkeit, unsichtbar dem blindgeborenen Auge und aufstrahlend unter dem Mikroskop, plötzlich! Man meint einen Augenblick, man habe den Gottesbeweis in den Händen. Glaub sie dem, der zu ihr spricht: Der Arzt haßt sie nicht, er bewundert sie.
C: Er bewundert? D. h., er hat ein großes Herz zu hassen.
U: Er haßt sie nicht, er darf sie nicht hassen. Dem Menschen ist eine Kraft verliehen von zweien, die Kraft zu hassen oder die Kraft zu vernichten. Eins nur von beiden.
C: Das ist eine Drohung!
U: Das ist eine Aufgabe!
C: Er ist ehrgeizig, er sieht seine große Stunde kommen.
U: Ein zu weiter Kittel für einen geborenen und gestorbenen Unterarzt.
C: Dies Papier, er nehme es zurück.
U: Sie nimmt dies Papier. Sie geht wohin er sie schickt!
C: Er redet daher wie ein Gott. Ich gehe wohin ich will.
U: Das ist der selbe Weg.
C: Er hat einen Eid geschworen, Arzt, jetzt will er ein Meineidiger werden?
U: Er hat einen Meineid geschworen, der Arzt, jetzt wird er ihn läutern zu einem Eid, und sie wird ihm helfen.
C: Ich verstehe nichts, was sie ihm helfen soll?
U: Es genügt, wenn er es versteht. Sie wird sehen.
C: Er redet abermals daher wie ein Gott.
U: Er grüßt sie. Auf Wiedersehen! Er heißt sie willkommen in unserer Stadt.

So ging die Cholera durch die Mauer in die Stadt ein und keiner hinderte sie daran. Die Straßen erhoben sich ihr zum Gruß. Sie erhoben sich zu schwarzem Sand und schlugen ihr Nadeln ins Gesicht. Die Straßen waren frei und menschenlos und von solcher Ödnis, das ihre Steinwände weit zu Ewigkeiten auseinanderwuchsen. Es schien dies die Gewaltigste der Städte zu sein. Ein Riese unter den Städten. Die Cholera sah: Die Stadt war so winzig, daß sie nicht einmal mehr den Himmel mit Fingern zu fassen vermochte. Sie hatte nicht die Kraft, sich gegen den Ansturm des Raumes zu erheben. Der Raum raste über die Stadt hinweg. Sie brachte nicht einmal den Mut auf, sich gegen ihn zu einem Igel zusammenzuballen. Sie lag unter der weißen Leere des Himmels, eine Wolke zerblasener Atome. Die Stadt war krank. Sie war am Ende. Die Cholera ließ sich nieder und seufzte:

C: Ich bin müde, Schwester. Gib mir eine Decke.

Die Stadt - ohne aufzuschauen - streute ihr einen Fetzen Sand über den Kopf.

C: Ich habe Durst, Schwester. Gib mir ein Glas.

Die Stadt zog zwei Finger durch eine Pfütze und fuhr der Cholera über die Lippen.

C: Ich bin die Cholera.
S: (dreistimmig geflüstert) Du Arme. Du Arme. Was kann ich für dich tun?
C: Es genügt, daß ich zu wohnen habe.
S: Was willst du essen?
C: Ich esse die Augen von Menschen. Ihre Zungen, ihr Herz, ihre Eingeweide.
S: Es ist wohl noch etwas da von Menschen.
C: Ich esse Brot und Fleisch, wenn es nur schlecht und stinkend ist.
S: Davon ist genug.
C: Ich begnüge mich gern mit Ratten und Fliegen, Gewürm und toten Vögeln. (Stadt im Hintergrund immer "genug" flüsternd)
S: Es soll alles aufgetischt werden.
C: Ißt du nicht mit mir, liebe Stadt?
S: Ich esse nicht mehr, vielleicht nie mehr in diesem Leben.
C: So darf ich den Weg gehen?
S: Du gehe ihn, arme Cholera. Womit dir gedient sein kann, das komme dir entgegen.
C: Ich danke dir, meine Schwester.

Die Cholera beugte sich über ihr Haupt und küßte die Stadt. Sie ging ohne aufzuhören ihren Weg. Es war ein schrecklicher Weg. Sobald die Cholera wünschte, sich niederzusetzen, flogen ihr die glatten geraden Straßen ohne Aufenthalt wie Peitschenstränge in den Rücken und zogen sie wie an einer langen Schnur. Die Steine fraßen an ihren Füßen. Sie ging und ging, und ihre Augen suchten ein Ding, sich daran festzukrallen. Nur einmal die Augen
stillhalten können. Nur einmal stehenbleiben.
Die Cholera eilte und beschleunigte ihren Lauf. Ihr Kopf lag weit vor dem Hals, ihre Füße schleiften hinter ihren Knien. Vor ihr ging ein Kind. Es ging langsam mit der Kraft eines Kindes. Die Cholera näherte sich ihm. Im Vorübertreiben griff sie seine Schürze. Das Kind stand still mit der Kraft eines Kindes. Die Straßen standen still.
Plötzlich war da eine Mutter. Sie nahm das Kind zu sich auf.

M: Was hat das Kind von Ihnen gewollt?
C: Ich fiel fast zu Boden. Das Kind erbarmte sich und hielt mich auf.
M: Es ist ein ungezogenes Kind, Sie verzeihen.
C: Ich danke dem Kind.
M: Das Kind wird sich bei Ihnen entschuldigen.
C: Das Kind ist noch so klein.
M: Es wird es nicht wieder tun. Sagen Sie mir Ihren Namen, das Kind wird sich entschuldigen.
C: Ich bin die Cholera.
M: ---. Das Kind hat nichts damit zu schaffen!
C: So will ich mich von ihm verabschieden.
M: Das Kind ist noch so klein!
C: (zärtlich) Es ist ein starkes Kind, es hielt mich auf.
M: Das Kind ist nicht gesund!
C: Das Kind wird nie mehr krank sein.
M: Das Kind ist hungrig!
C: Es wird nun nicht mehr lange hungern.
M: Die anderen Kinder schlagen es.
C: Niemand mehr wird es schlagen.
M: In unserem Haus ist nicht viel Platz.
C: Ich brauche nicht mehr als ein Bett und sehr viel Wasser für meinen Durst.
M: So nehmen sie das Kind.

So bekam die Cholera ein Kind als Gastgeschenk und ein Bett und Wasser für ihren Durst.
Als es dunkel wurde, setzte sie sich auf und las in einem Buch, denn es war ihr nicht gegeben, schlafen zu können wie andere Geschöpfe.

Am Morgen war es
Montag und die Stadt, die ihren Gast nicht kannte, teilte sich die Zeit ihres Verbleibens auf dieser Welt in die gewohnten Atemzüge ein. An diesem Montag aber begannen die Hin- und Herreden über den Kopf des Gastes hinweg, und am Abend des Montags stießen der Priester und der Kommissar an der Tür zusammen. Da keiner dem anderen den Vortritt gönnte, quälten sie sich gemeinsam durch die Tür.
Die Cholera verbrachte den Tag im Bett und starrte mit ihren ewig offenen Augen zur Decke. Der Priester schnappte sich das erste Wort:

P: Es sei mir erlaubt, mich nach dem Befinden unserer lieben Zugereisten zu erkundigen. Hoffentlich ist es nichts Ernstes, das sie ans Bett fesselt, liebe Freundin.

Der Kommissar zitterte vor Ehrgeiz und Ärger und rief wie über eine Menschenmenge hinweg:

K: Sie kam zu uns, sie ist freiwillig zu uns gekommen. Nur ein lebenslänglicher Optimist konnte dazu imstande sein. Ein Zeichen, daß unsere Freundin sich bester Gesundheit erfreut.
P: Gar oft kommt auch der glücklichste Mensch in die Lage, des Nächsten Hilfe bedürfen zu müssen.
K: Unsere Freundin benötigt sichtbarlich nichts und was sie benötigt, soll ihr zuteil werden.
P: Es ist meine Aufgabe als Priester -
K: Es ist meine Aufgabe als Kommissar -
P: Es ist meine Aufgabe!
K: Es ist meine Aufgabe!
P: Es ist meine Aufgabe!
K: Es ist unsere Aufgabe!
P: Es ist ihre Aufgabe, Kommissar, für Kohlenscheine und Kartoffelkarten zu sorgen, auf daß unser Gast nicht hungere und friere.
K: Vielleicht könnte sich die Priesterschaft zu einer kleinen materiellen Unterstützung aufraffen, mir vor allem liegt am Herzen das Seelenheil unserer Freundin.
P: Ich vergaß, mich Ihnen bekannt zu machen.
K: Vergessen Sie´s weiterhin. Ich bin der stellvertretenden Vertrauensmann des Abschnittsbevollmächtigten. Meiner Fürsorge obliegt es -
P: Kennen Sie das Gerücht?
K: Es ist kein Gerücht. Es ist auf der Geheimsitzung der Partei öffentlich diskutiert worden!
P: Was gedenkt die Partei zu tun?
K: Für den Gast?
P: Wohl mehr für ihre Schutzbefohlenen.
K: Es gibt für mich eine Verfügung und die kommt von oben.
P: Und für mich eine Gemeinde und die Verantwortung für ihr Wohl.
K: Hm, was würden Sie tun, wenn Sie keine Verantwortung zu tragen hätten, sondern nur ihren freien Willen?
P: Was würden Sie tun, wenn Sie keine Parteivorschriften hätten, sondern das Recht der freien Meinungsäußerung?
K: Ich würde schweigen.
P: Und warum?
K: Ja sehen Sie denn nicht ihren Untergang hier vor uns auf dem Bette liegen und schweigend die Decke anstarren, als gäbe es sie bereits nicht mehr? Die Cholera ist eine Aufgabe für die Wissenschaft. Die Wissenschaft führt von der Idee weg und das heißt für Sie von Gott weg, hin zu den Laboren und Apparaturen. Die Labore und Apparaturen erzeugen Staubsauger, Atom-U-Boote, Konservenbüchsen, Fernsehtruhen, Korkenzieher, Reißverschlüsse, Autos, Nylonstrümpfe, Abführpillen und Choleraschutzimpfung. Wo bleibt da die Kirche?
P: Sie vergessen den Staatsapparat, der da, wo er allwaltend wird - und das wird er durch sie - verhindert, daß es rechtzeitig und in ausreichendem Maße Staubsauger, Atom-U-Boote, Konservenbüchsen, Fernsehtruhen, Korkenzieher, Reißverschlüsse, Autos, Nylonstrümpfe, Abführpillen und Choleraschutzimpfung geben wird. Ehe Sie die erste Rettungspille gedreht haben, werden die Kirchhöfe sauer nach Karbol und süß nach totem Fleisch und bitter nach aufgeworfener Erde riechen, und die Menschen werden sich um den Altar des Herrn scharen, sei es auch nur aus Aberglaube, das Brot und den Wein zu nehmen, die Leben verheißen oder den Tod vorbereiten in Gnaden. Die Kirchenfliesen werden klirren unter dem Volk.
K: Priester, da wett´ ich mit Ihnen.
P: Ich wette nicht. Ich frage, was haben Sie hier zu suchen?
K: Ich? Hier? Kommen Sie, wir gehen.
Ohne sich auch nur nach der lieben Freundin umzudrehen, verließen sie einig das Haus, und der Kommissar trat höflich zurück.
Die Cholera schien es, hatte das alles gar nicht bemerkt. Jedenfalls hatte sie zu dem Gespräch der beiden mächtigen Untergebenen kein Wort hinzugetan.

Am
Dienstag nun geschah es, daß einige Arbeiter von Faulheit befallen wurden. Die Ärzte mußten ihnen drohen und gut zureden, ehe sie sich aufrafften und sich ein wenig schlapp an die Werkplätze schleppten. Dann erst behaupteten sie, sie hätten Fieber oder so etwas. Sie arbeiteten mühselig mit einer Hand. All die Staubsauger, Atom-U-Boote, Konserven, Reißverschlüsse, Fernsehtruhen, Autos und Abführpillen kamen noch weniger zustande als gewöhnlich. Wenn die Direktoren nicht solch dumpfes Gefühl im Kopf gehabt hätten und solche Gliederschwere, hätten sie das Telefon von der Gabel gehoben und Flüche durch den Draht gebrüllt.
Die Cholera setzte sich in die chinesische Teestube unter den Kastanien und hielt sich selber eine Rede. Sie sagte:

C: Ich frage mich: ist diese Stadt eine Stadt zum Wohnen der Menschen? Ich sage nein. Ich fühle mich wohl hinter diesen Mauern, und es geht mir gut. Ich gedeihe, und man läßt mich gedeihen. Aber gesetzt, ich wäre ein Mensch. Was würde ich tun? Ich würde hier nicht leben wollen. Ich würde fliehen durch sieben Stacheldrähte. Ich könnte aber gar nicht durch die sieben Drähte fliehen. Was würde ich als nächstes tun? Ich würde mich niederlegen und schlafen. Der Mensch hat eine klare Einsicht, daß Träume nicht weh tun und dies ist ein Ort zum Träumen mehr als zum Handeln und Treiben. Man träumt am Tage, legt abends den Kopf auf die Kissen und am Morgen hebt man den Kopf nicht mehr auf. Vielleicht weinen die, die ihn lieben? Weinen über einen glücklichen Träumer? Das ist ein Trug. Dem Träumer ist wohl zumut und wenn er Durst hat, so gebe man ihm zu trinken und lege Kühle über die gekrampften Beine. Vielleicht schreit der Träumer auf und seine Stimme ist schrecklich. Woher aber willst du denn wissen, Weinender, daß dies nicht Gesang ist, wenn du nicht mehr als Wohlklang vernehmen kannst, weil du dich zu weit von deinem Freund entfernt hast? Ich beneide die Menschen. Ich beneide die Bewohner dieser Stadt. Ich beneide sie um ihre Träume, denn schlaflos hat mich Gott geschaffen.
So sprach die Cholera.

Da wurde es Nacht und wurde Mittwoch. An diesem Mittwoch brach ein wilder Streik los unter den ungebärdigen Arbeitern. Sie warfen sich in Massen nieder, wühlten sich in ihre Laken ein und fielen in Träume. Viele starben und verließen die Stadt für immer. Die Polizei faßte sich ans Gedärm und wagte nicht einzugreifen. Die Polizisten mußten sich einzeln an Eimern und Schüsseln festhalten und blieben in einem einzigen Händewaschen und manch ein Pilatus der höheren Ordnung erbrach sich in seine frischgewaschenen Hände.
Die Horden der kleinen Studenten aber zogen los zu dem lustigsten Studentenulk seit langem. Das Faschingsfest war sehr rot und sehr grau und sehr würdig und sehr langweilig verlaufen, und alles war öd und stur wie immer. Jetzt aber, jetzt, jetzt war etwas los! Das lohnte sich! Das war nicht der Alltag und nicht der Sonntag, der in den Alltag überlief. Es war ein Fest. Sie waren fröhlich, und sie waren fleißig. Sie streikten nicht, sie hatten das ganze Semester über gestreikt und vertrödelt, jetzt zeigten sie, was sie konnten. Zu zweien und zu dreien gingen sie von Haus zu Haus und erfaßten alle Seelen auf einer Liste. Auf die eine Seite schrieben sie die Namen derer, die noch auf waren und wachten und oftmals weinten, auf die andere Seite schrieben sie die Namen der Träumer. Die durften nicht mehr aus ihren vier Wänden getragen werden und ihre Angehörigen das Haus nicht mehr verlassen. Da einer nach dem anderen in Träume fiel, strichen sie die Namen ständig aus und setzten sie auf die andere Seite über. Der Spaß machte die kleinen Studenten fest. Kaum einer von ihnen fiel in Träume.

Am
Donnerstag früh hatte sich die Stadt an ihren Zustand gewöhnt. Die Milchmädchen schütteten Karbol und Lysol auf die Schwelle der Konsumläden, so gleichmütig wie sie ihre tägliche Milch verplemperten. Und durch die großen Alleen der Stadt, der Schönhauser, der Prenzlauer, der Frankfurter, wälzten die Schwaden der Desinfektionslösungen bis in die Eingänge der U-Bahn.
Die Ministerien hatten bereits weiß umwickelte Klinken. Die untergeordneten Dienststellen lachten noch darüber. Aber als eines Tages kein Minister mehr in der Stadt war, bewickelten auch die untergeordneten Dienststellen die Klinken mit stinkendem Zeug. Nur daß sie keine Wagen und Order hatten, und so blieben die untergeordneten Dienststellen in der Stadt. Das Seltsame geschah. Die Stadt, der Staat, das ganze Land hatte keine Regierung mehr, aber niemand bemerkte es.
Die Akademie der Künste hatte eine große Kunstausstellung pünktlich eröffnet und den Eingang mit internationalen Fahnen behängt. Da standen auf steinernen und hölzernen Sockeln Jünglinge und Männer und Mädchen und Frauen und rekelten ihre bloßen und bedeckten Oberkörper und stellten einen nackten Fuß vor den anderen oder entsprechend einen künstlich gebildeten Schuh vor den anderen, und dem Besucher zuckten die Finger, die künstlich nachgebildeten, etwas losen Schnürsenkel anzuziehen und fester zu knoten. Aber ein müder Wächter gab acht.
Die Figuren - schwarz von Bronze, weiß von Marmor, braun von Holz - schwenkten in ihren nervigen Fäusten Hämmer und Ambosse, Sicheln und Harken, und mitten unter ihnen stand ein kleiner Küchenstuhl, kunstlos und viereckig, mit abgeblätterter gelber Ölfarbe geschmückt, darauf eine angeschlagene Emailleschüssel mit einem Stück Seife. Über die Lehne des Küchenstuhls hing ein weißes Tuch. Ein ausländischer Kritiker sah es lange an und schrieb in sein Büchlein: "Die Kunst wird freier." Ein inländischer Kritiker verwunderte sich nicht. Er kannte dies dadaistische Artefakt. Es stand allenthalben. Er schaute nur ängstlich auf den ausländischen Kritiker. Der lächelte ihn freundlich an und nickte anerkennend: Man sah, es ging aufwärts.
Die Studenten zogen von Haus zu Haus und gaben die Scheine aus: Du und du und du, ihr dürft das Haus nicht mehr verlassen. Sie drückten einen mitgebrachten Stempel auf, und ihre Unterschrift war noch sehr kindlich. Dann verschlossen sie die Tür.
Abends dann wuschen sich die kleinen Studenten die Hände und zogen in die Teestube unter den Kastanien. Sie mieden den Alkohol und berauschten sich an blauschwarzem Tee. Um die Mitternacht verloren sie sich in die Quartiere.
Dreie blieben und hielten aus. Sie gingen voll Übermut vom Tee zum Wein und vom Wein zu klaren, harten Schnäpsen. Sie fürchteten nicht für ihren Bauch. Der eine hatte sich ein Mondgesicht aufgesetzt, dem war die Nase abgebrochenen, denn es hatte jüngst zum Karneval gedient. Er hatte das Hemd abgestreift und ging nackt bis zum Nabel. Der andere trug zwei Hörner auf dem Kopf gebunden. der dritte hatte sich einen Zottelbart umgehängt
und über den Kopf einen Turban geschnürt mit Federn und Troddeln.
So toben sie schamlos herum.
Ab und zu drückte sich ein Gesicht von draußen an die Scheibe und sah aus dem grauen Morgen in den rosa und gelb angezündeten Raum. Dann flog die Tür auf. Zwei Gäste erschienen. Die Masken krochen unter die Tische und zogen die Tücher über sich. Es waren die hohen Häupter der Fakultät, der Herr Oberarzt, der Herr Unterarzt, beide. Der Herr Oberarzt schrie:

O: Guten Abend, die Herren!

Studenten: Guten Abend!

...kam es unter den Tischtuchzipfeln hervor und drei Köpfe tauchten abenteuerlich auf. Der Oberarzt tobte:

O: Es geht Ihnen gut! Ich sehe!
Student Buddha: Es fehlt uns an nichts.
O: Das alles, was hier in der Stadt Schreckliches geschieht, (brüllend) macht Ihnen nichts aus?
Student Moses: Was schreckliches? Eine kleine Volksscheißerei.
O: Nicht, sondern, im Vertrauen: Die Cholera.
Student Mohammed: Viktoria, die Cholera. Sie lebe hoch, die Dame.
O: Sie geben Ruhe! Setzen Sie sich würdig hin, damit ich mit Ihnen reden kann. Worum handelt es sich, meine Herren? Sie werden einst einen Eid schwören, einen Eid auf die Menschheit. Sie werden erzogen, der Menschheit zu dienen. Ärzte des Volkes. Sie einst nehmen das große Werk meiner verdienstvollen Generation auf die Schultern: Die Menschheit zu ihrer höchstmöglichen Höhe emporzuheben. Göttern gleich und mehr als die Götter, die der Mensch sich einst erschuf nach seinem Bilde. Wenn der Gott Apollo in jenem alten – ähm – Dingsda, dem -hm - Dingsda, der konnte den - Dingsda zwar die Pest bringen, aber wir können sie auch wieder wegmachen. Der Weg in die Zukunft ist steil und strahlend. Ist das Ziel. Auf diesem Weg hat sich uns ein Feind entgegen geworfen. Ein Feind im zweifachen Sinne des Wortes Feind. Einmal Feind im sinnbildlichen Sinne des Wortes, zum anderen aber im konkret satanischen Sinne des Wortes. Denn wir haben wohl keinen Zweifel, daß man mit Bakterien infizierte Marienkäfer über den Schutzwall in unsere Stadt geworfen hat, um uns zu vernichten! Heimtückisch und hinterlistig schlich sich der Feind in unsere Stadt ein. Feind der Menschheit. Menschheit schlechthin, also der unsrige. Haltet euch daran, ihn zu vertreiben. Ich fordere und verlange, daß alle meine Studenten ihre Pflicht tun und nichts als ihre Pflicht. Haben die Herren mich gehört?

Student Buddha: Nun schweig, du Schwätzer! Wir haben gehört, als hätten wir nicht gehört. Also deine Cholera gibt es und gibt es nicht. Es gibt sie in dir und niemals außer dir. Wenn du nicht aus dem Grund deines Seins - und Nichtseins - vergiftet wärest, gäbe es sie nicht. In dir vernichtest du sie. Mit Gleichmut vernichtest du sie. Entgifte dich, du schäumender Narr! Wir verlöschen und mit uns verlischt die Cholera. Im Namen des Nichts, das ist das Urteil über die Cholera: Sie verlösche.

Student Moses: Wer hat uns diesen Feind gesandt und warum kommt er über uns? Das Volk ist abgefallen von dem Herrn. Er hat die Geißel gesandt, zu striemen das Volk, das von ihm abgefallen ist. Wer die Cholera leugnet, der leugnet Gott. Wer die Cholera bekämpft, bekämpft den Herrn. Traget und duldet. Werft euch vor die Cholera. Weinet und winselt, beugt, unterwerft euch. Der Herr wird richten, das Volk richten die Cholera. Der Herr wird seine Geißel zerbrechen, so sie ausgedient hat. Im Namen der Schrift, das ist das Urteil: Der Herr zerbreche die Geißel.

Student Mohammed: Wohl ist die Cholera von Gott, wohl, aber nicht ist sie eine Geißel, sondern Gottesgeschöpf wie Mensch und Esel. Und wie Mensch und Esel schleppt sie die Last, die ihr vor dem Beginn aller Tage vom Höchsten ist auferlegt worden. Nur schleppt sie nichts Lebendiges, sondern Totes, nichts zur Nahrung und Freude Dienendes, sondern zu Tränen und Leide Dienendes. Wer gegen die Cholera klagt, klagt gegen Gott, denn Gott hat die Cholera erschaffen, sich zum Ruhme. Der Mensch habe Mitleid mit sich. Er pflege seinen Nachbarn, versorge die Witwen und Waisen, gebe den Armen und verscheide, versorgt mit Gebeten, wie es ihm von Anfang bestimmt war. Dann wirst du, Mensch, eingehen zu deiner Zeit ins Paradies. Die Cholera aber, so sie sündigte am menschlichen Fleisch und Gebein, niederfahren zur Hölle und brennen, so wie sie die Geschöpfe Gottes gebrannt hat. Im Namen des Allerheiligen, das ist das Urteil: Die Cholera, sie gehe ein ins ewige Feuer.

O: Nehmt Vernunft an! Ich lasse euch verhaften! Ihr seid Aufrührer!
U: Herr Oberarzt bitte ans Telefon, eine Persönlichkeit von der hohen Leitung ist erkrankt.

Der Oberarzt verschwand schnell und spurlos. Die Studenten zogen ihre Masken ab und zeigten drei jämmerliche Gesichter. Das Mondgesicht bekleidete sich wieder mit seinem Hemd und zog sich den Schlips durch den Kragen. Der Unterarzt fiel auf den Stuhl nieder und kippte nach vorn. Er warf sich zurück, riß die Augen auf und sagte:

U: Ihr Kinder ihr, Kinder seid ihr. Ich habe Verständnis für alles und es soll euch nichts geschehen. Aber es ist wirklich die Cholera und wir müssen sie vernichten! Schaut in den hellen Morgen und seht, was ich gesehen habe. Alle Menschen sind auf und stehen schwarz vor den offenen Kaufhallen, und es ist doch Feiertag! Vor den Läden ballen sie sich und harren aus, Stunde um Stunde. Es ist das Verkehrteste, aber es ist ein Anfang. Alles geschieht wie in einer Legende. Ich sehe Kisten mit schwarzer Schrift, drauf steht geschrieben "Nederland, Espania, Israel, Libanon, Italia". Wißt ihr überhaupt, wo diese Märchenländer liegen? Nein. Nun liegen sie vor der Haustür mit Äpfeln, Zitronen, Apfelsinen. Wann hast du das letzte Mal einen Apfel gesehen? Ich sah ihn heute früh. Ein Kind hielt ihn fest und biß hinein. Ich sah ein Kind mit einem Apfel. Geht und seht auch. Und das bescherte uns die Cholera! Ja, sie soll leben! Noch diesen Augenblick soll sie leben und dann nicht mehr! Stoßt an. Das letzte Glas auf die Cholera und dann, Kinder, kämpfen. Auf in den Krieg. Kämpft und kämpft, bis ihr nicht mehr wißt, ob Tag oder Nacht euch um die Ohren schlägt. Jetzt Schluß. Oh, ich könnte umfallen. Weiter!

Die Cholera wußte nichts von dem dreifach erlauchten Todesurteil über ihren Kopf hinweg und die schreckliche Kriegserklärung. Die Nacht war um sie. Sie geriet in eine Anlage. Die Sträucher stakten schwarz und ohne Blätter aus dem schwarzen Sand. Sie suchte wieder unter die spärlichen Lichter der Straße zu kommen. So kläglich die Büsche waren, waren sie doch stur und eigensinnig, wie dieser Boden alle seine Geschöpfe gemacht hatte und nagelten mit Zweig und Dorn die Cholera an der Stelle fest. Ein Schatten und ein Schmerz fiel über sie. Und dann ein Schrei. Aber nicht die Cholera schrie, denn ihre Schenkel waren von Eisen, und der Messerstich schmerzte den Mörder selbst in die Hand zurück. Die Büsche packten auch den blutigen Schatten, und auch er stand und versuchte sich loszuwirren. Dabei klagte und stöhnte er, denn er ängstigte sich. Die Cholera sagte:

C: Das wird dir das Leben kosten.
M: Die Mauer ist schuld.
C: Meinst du nicht, daß du Schuld wärst?
M: Ich kann nichts dafür: Gott hat mich so gemacht.
C: Vielleicht bin ich schuld?
M: Die Weiber sind schuld. Aber du bist kein Weib, wie ich dachte? Nacht für Nacht reiße ich ihnen mit meinem Messer das Fleisch von den Schenkeln.
Die Mürzen, die verdammt süßen, die nachts aus dem Theater kommen, lassen sich im Geleitschutz nach Hause bringen. Kein Weib geht mehr einzeln.
Das gibt süße Nächte für all diese Knilche, die nur Wasser im Leib haben. Aber dürre Beute für mich und keine Lust! So wie heute, wo ich wieder eine alte Stakse erwischt habe, und nun ist sie nicht mal tot. Und gleich kommt Polente...
C: Von mir aus lauf. Du wirst nicht mehr Weiber getötet haben als ich.
M: Das wußte ich, daß du eine Hexe bist! Leidest du auch an der Mauer?
C: Was sollte ich an der Mauer leiden? Für mich gibt es keine Mauer.
M: Ich lebte so friedlich meinen Tag und hatte mein Vergnügen in der Nacht und morgens mein Bett. Eines Tages steht da eine Mauer vor meinem Bett und ich kann nicht mehr rüber. Verstehst du? Ich muß jetzt da morden, wo ich wohne. Weißt du, was das heißt? Es geht zu Ende mit mir. Ich rase jetzt noch ordentlich durch und nehme, was ich erwische. Das ich endlich den Schlund voll habe, wenn sie mir das Eisen umlegen. Wenn sie nicht die Schießmänner alle an der Mauer hätten, wär´ ich längst hin. Aber ich mach´s nicht mehr lang. Bald haben sie mich.
C: Nun, dann hast du deine Ruhe.
M: Ha, was verstehst du davon. Gern hätt´ ich alles hinter mir, aber begreife doch, die Schande, die Schande! Ich bin doch kein Halbstarker. Ich bin doch ein anständiger Mensch! Mit einer Kette ums Handgelenk führen sie mich durch die Nachbarschaft durch. Meine Wirtin sagt: Aber es muß ein Irrtum sein, das kann ja nicht sein. Und ihre Schwägerin sagt: Siehst du, er war mir schon immer etwas komisch vorgekommen. Und die ganze Stadt begafft mich, ehe ich im Auto bin und vor Gericht -
C: Sie werden ein geheimes Gericht machen, denn deine Schande ist ihre Schande.
M: Aber ich hasse sie, die Fressen, unter dem goldenen Eichenkranz mit ihrem Käppchen vollgepumpter Würde. Ich kannte unsere Staatsanwälte und Volksrichter noch, da waren sie Athletenmaxe und Geldschrankknackerheini und hatten sieben Stuten auf´m Strich zu laufen und ließen sich von Zille malen. Aber am ersten Mai, war´n ´se immer dabei... Ich wollte ich wäre ein normaler Mensch, dann würde ich keine Mätzen schlachten, sondern in diese da reinstechen. Hieb - Stich - Hieb - Stich - Hieb - Stich - Hie-
C: Langsam tust du mir weh. Hast du nicht mal daran gedacht, ein Ende zu machen?
M: Ich Feigling und – ich bin so religiös erzogen...
C: Nun gut, geh hin. Sie werden dich nicht erwischen und trotzdem wird alles vorüber sein. Geh.
M: Dank dir, Hexe. Alte Weiber haben mir immer Glück gebracht.

Die Cholera ließ ihn laufen in seinen Gnadentod. Sie riß sich das Kleid aus dem Gezweig und den Dornen und wollte davon. Da sah sie auf. Ein Blinkzeichen ging über den Himmel. Noch einmal schlug ein Stern das Zeichen über ihren Scheitel. Die Cholera stand zu Eis gefroren mit hochgeworfenem Kinn. Hielt still. Ganz still. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah empor, die erhabene Schrift, die sich am Himmel bildete, mit Augen zu ertasten. Sie öffnete den Mund und antwortete ihrem Herrn:

C: Herr, ich höre. Sprich zu mir.
H: Ist meine Dienerin bereit?
C: Sie ist bereit.
H: Diese Stadt wirst du erobern und als alleinige und rechtmäßige Besatzungsmacht über ihr thronen. Bist du bereit?
C: Ich bin nicht bereit.
H: Du redest unverständlich. Wiederhole dich, Dienerin.
C: Ich bin nicht bereit.
H: Nenne dich.
C: Ich bin deine Dienerin.
H: Bist du bereit?
C: Ich bin nicht bereit.
H: Steh Rede!
C: Herr, Herr, Herr! Haben nicht Tausend Jahre alle himmlischen Heerscharen, von denen ich eine bin, um dieses Volk sich geschart? Und ist es nicht darum, daß es nicht dieses Volk heute noch gibt?
H: Bist du bereit?
C: Der Herr, hat er nicht selbst dieses Volk durch sieben rote Meere geführt und sind nicht Dutzende von Pharaonen hinter seinen Sohlen ertränkt worden? Warum, Herr, hast du so gearbeitet, nun loszulassen?
H: Bist du bereit?
C: Herr. Ist nicht dieses Volk als einziges der Erde umwohnt von mehr als zwölf Nachbarn, alle flink und im Totschlag geübt? Was braucht es mich als dreizehnten Tod? Was will ich zum siebenten Mal da die Ausrottung verkünden, wo dieses in zwei Menschenzeitaltern zu sechsmalen geschah? Und aus menschlichen Zungen, die schärfer und giftiger stachen als meine bescheidene Zunge.
H: Bist du bereit?
C: Herr, Herr. Nenne dich oder die Dienerin fällt aus deinen Händen.
H: Gib mir einen Namen, den will ich mich nennen.
C: Gerechtigkeit.
H: Der Name Gerechtigkeit dauere mit mir, ich dauer mit ihm. Hat diese Stadt in Gerechtigkeit gedauert? Ich gewähre noch zwei Namen und dann keinen.
C: Geduld.
H: Der Name, in dem ich bereit bin, Zeit über Zeit zu verweilen, heiße Geduld. Wird diese Stadt eine allzeit geduldige Stadt sein? Ich gewähre noch einen Namen und dann keinen.
C: Erbarmen.
H: So höre: Die Erde ist ein Ort, gemacht, darauf sich auszuruhen in meinem Erbarmen. Die Stadt ruhe aus auf der Erde. Die Dienerin hat sie gehört?
C: Gehört und gehorcht.
Eine Wolke zog groß über die Schrift. Der Himmel erlosch. Ein Schnee fiel nieder. Osterschnee.
Da stand ein Mann, der sagte.

J: Kannst du denn nicht eine Stunde mit mir wachen?
C: Ich wache, Herr. Ich kann gar nicht schlafen. Gott hat es mir verwehrt. Er hat vergessen, mir Augenlider zu erschaffen.
J: Hast du einen Wunsch, so will ich ihn dir erfüllen, denn dies ist der letzte Tag, an dem ich Wünsche erfülle. Ich gehe, von morgen an zu befehlen.
C: Morgen haben wir einen Freitag. Laß mich diesen Tag einmal nicht mit Augen schauen. Laß mich einen Tag überschlafen. Dann will ich wieder wachen, den Sonnabend, den Sonntag und alle Zeit, die Gott mich hält.
J: Es soll geschehen, wie du es wünschest. Sobald es Tag ist, wirst du dich legen und schlafen. Und so du Feinde hast, werden sie an dir vorübergehn.
C: Eine Frage, Herr. Wie willst du mich denn schlafen machen? Ich habe doch keine Lider über den Augen?
J: So lege ich dir meine Lider über deine Augen. Ich brauche sie nun nicht mehr.

So geschah es, daß die Cholera den Heiligsten der Tage überschlief. Und ihre Feinde fanden sie nicht und es gab keinen Krieg gegen die Cholera.

Dann war sie aber am frühen
Sonnabend auf den Beinen und marschierte aus der Stadt. Sie verließ das flache Land und ging die Berge hinauf. Sie wollte einen Tag Urlaub nehmen, bevor sie ihr herzzerbrechendes Amt antreten mußte. Hei, die Herren von der hohen Leitung. Sie hatten ebenfalls die Stadt verlassen und waren vor der Seuche in die Berge geflohen. Wie erschraken sie, als die Cholera an ihnen vorüberzog. Aber die Cholera verachtete sie. Sie streckte die Hand nicht nach ihnen aus, überschritt die Grenze und ging in das fremde Land, dahinein das Oberhaupt des bedrohten Staates heimlich geflüchtet war.
Sie kam an ein Haus, darin lag ein Mann in seinem Bett. Zwei Wächter saßen vor der Tür und vertrieben sich die Zeit mit schweinischen Witzen. Sie sollten über das Haupt des Herrn wachen, ihn beschützen, die rechten Hände sein seiner Macht über dem Volk und saßen und erfanden Schimpfnamen in seinem wehrlosen Rücken, denn er würde wohl nicht mehr lange Herrscher sein, vermuteten sie. Am meisten nannten sie ihn "das Tyrannlein".
Die Cholera schoß einen Fußtritt zwischen sie, daß sie rechts und links auseinanderflogen. Die Cholera trat ein. Das Tyrannlein sah ihr mit großen glänzenden Augen entgegen und rührte sich nicht. Es flüstere so leise, als wollte es insgeheim seine eigenen Schimpfnamen aufzählen:

T: Hast du mich doch erwischt?
C: Was redest du von erwischt?
T: Ich habe das Fieber.
C: Nicht jedes Fieber kommt von mir.
T: Ich glaube, ich muß mich erbrechen.
C: Tu das. Es wird dir gut tun, Mensch.
T: Was redest du mich mit Mensch an?
C: Verzeih, ich wollte dich nicht kränken. Das niedere Volk schimpft sich mit "Mensch". Ich habe zu viel unter dem Volk gehockt. Verzeih.
T: Sag es noch einmal, das Wort.
C: Mensch.
T: Ich danke dir. - Ich habe es nicht gewollt.
C: Nicht was du gewollt, was du getan hast.
T: Der Zar, der Neue... Der Alte war aus Eisen und aus Hochmut und aus Bosheit gehämmert. Das war eine gute Mischung. Wenn´s gar nicht mehr weiterging, griff man zur Laute und klimperte ein Volkslied aus seiner Heimat. Und dann schickte er einen nach Haus. Oder man erfuhr, daß man dran sei. Dann stürzte man an die Wiege seines Sohnes und sagte: "Väterchen, er ist ganz aus deinem Schlag." Und dann lächelte er und schickte einen nach Haus. Und wenn keine Laute in der Nähe war und keine Wiege, dann warf man sich platt auf den Boden und schrie: "Verzeih!" Und vieles war wieder gut gemacht. Aber der Neue, der ist aus Speck und Gift und Seife geknetet. Wahrhaftig aus Seife. Zweimal bin ich vor ihm niedergestürzt, vor seiner schäumenden Fresse. Wahrhaftig, es muß Seife in ihm sein, in dem Zaren. Seife! Zweimal hat er mich angeschäumt. Da dachte ich - es ist nichts mehr zu verlieren - und sagte: "Es ist nicht um mich, es ist, weil es eine Dummheit ist, und wir werden sie bereuen. - "Mir bläst der Wind nicht", sagte er. Und dann bekam ich Angst und dachte: Was geht mich das blöde Volk an. Zweimal hat es mich verjagt. Zweimal mußte Väterchen mir den Thron unterschieben. Ich muß verrückt sein. Für die mein Leben? Und dann tat ich es.
C: Ich weiß nicht alles von deinen Dingen und vielleicht geht es mich auch nichts an.
T: Ich hatte die Wahl, eines schrecklichen Todes zu sterben.
C: Was weißt du von deinem Tod?
T: Und ich bin ihm nicht entgangen. Aber es ist besser, so wie es nun ist. Ich fürchte mich nicht vor dir. Gib mir, was mir zusteht. Laß mich sterben.
C: Ich lasse niemanden sterben. Gott läßt sterben.
T: Dein Gott, wenn es ihn gibt - warum auch nicht - er gewährte mir wohl kaum den Tod. Er ließe mich eine Ewigkeit dauern in meinem Jammer, mir Schimpfworte an den Kopf zu geifern. Dein Gott -
C: Wer sagt dir Schimpfworte?
T: Alle sagen mir Schimpfworte.
C: Dir ins Gesicht?
T: Nein! Ich kann nichts vernehmen. Bei Tage nicht. Aber nachts kommt es von allen Seiten auf mich herein. All die schweinischen Worte. Das Gelächter der Elenden, die meine Diener sind. Ich könnte sie töten lassen, aber es kommt durch die Tür, durchs Fenster. Aus den Ritzen des Bodens qualmt es wie ein Stank und von der Decke herab tropft und prasselt es wie Wanzenregen und Ungeziefer. Schimpf und Schimpf und Schimpf. Rette mich! Ich bin nur noch eine Schande. Töte mich.
C: Geduld. - Was du den Untertanen empfiehlst. Geduld.
T: Geduld. Geduld. Ich weiß, ich bin ein Dreck und ich war stolz darauf. Es war meine Ideologie, ein Dreck zu sein. Ich verachtete alle, die kein solcher Dreck waren wie ich. Ich tötete sie, als seien sie niedere Wesen neben mir, weil sie nicht solch Dreck waren. Und jetzt merke ich, daß ich es nicht durchhalten konnte wie ich gewollt. Ich wünschte, ich hätte mich nie zu Dreck gemacht. - Es ist nicht mehr zu ändern.
C: Geduld, Mensch.
T: Hast du kein Mitleid mit mir?
C: Ich habe Mitleid mit dir und deinem Leben
T: Ich danke dir, abermals, ich danke dir.
C: Vor einem Jahr, hätte ich da gewagt zu sagen, ich hätte Mitleid mit dir? Mit Peitschen hättest du mich züchtigen lassen.
T: Ha. Vor einem Jahr. Ich weiß nicht. Ich kann mich nicht erinnern. Aber - du magst Recht haben. (zögernd) Ja, ich gebe zu, du sagst die Wahrheit.
C: Du kehrst in die Stadt zurück. Nicht wahr?
T: In die Stadt?
C: Es muß zu Ende gelitten werden. Meinst du nicht?
T: Ich tue es. Ich tue es. Du bist groß.
C: Ich bin größer als dein großes Stück Seife, das zwar schäumen kann, aber dich nicht rein macht.
T: Du bist die Größte! Ich will alles tun, was du auch befehlen magst.
C: Ich bin nicht die Größte. Ich befehle niemandem. Was du tust, tust du freiwillig.
T: Ich will freiwillig wollen, was du befiehlst.
C: Nicht was ich befehle, um was ich dich bitte. Es wird hart sein.
T: Alles!
C: Du wirst von nun an nackt und bloß sein. Von innen und außen. Dafür wird dich der Schimpf nicht mehr schmerzen. Es ist, als träfe er durch dich hindurch.
T: Was wird aus meiner schrecklichen Fresse, die ich so lange vor dem Spiegel gezüchtet habe?
C: Du wirst eine Maske tragen, so wie du sie dir erarbeitet hast. Darunter wird nichts sein. Gar nichts.
T: Ich danke dir.
C: Tu´s nicht. Du weißt noch nicht, wie es sein wird.
T: Ich werde nicht sterben?
C: Noch nicht.
T: Gib mir die Hand.
C: Zu dem, was dir bevorsteht?
T: Gib mir die Hand. Ich danke dir.

Die Cholera gab dem Tyrannlein die Hand und kehrte sich zur Stadt um. Es war
Sonntag. Die ersten Glocken läuteten die Ostern ein. Die Sonne erschien wie ein matt gesiebter Kriegsheld. In einer Nacht wurde aus Winter Sommer.
Die Cholera stieg hoch in einen Turm, sich die Stadt anzusehen, die ihr nun angehören sollte. Auf dem Weg streifte sie einen Baum und fühlte das Grün mit Händen. Dann erst sah sie, daß die Bäume anstelle der Menschen beschlossen hatten, Auferstehung zu feiern. Vom Turm aus sah sie die Stadt liegen.
Die Stadt rollte die Glieder auseinander. Die Sonne stach ihr in die Augen. Sie blinzelte und rekelte sich, die Stadt. Sie schüttelte den Staub aus den Kleidern, erhob sich taumelnd und ließ sich nieder an ihrem schwarzen Fluß. Sie badete die Hände, panschte sich die Augen aus. Sie hüpfte ein paar Schritte vor sich hin, als müsse sie sich im Gehen üben. Dann sah sie empor und sagte, die Stadt:

S: Ich muß geschlafen haben wie eine totgestunkene Ratte. Ich habe einen Hunger - wie meine Bären in dem Zwinger da. Ich könnte meine eigenen Bären fressen. He, oben, du Schlampe, was bist du für eine?
C: Du kennst mich nicht?
S: Nie gesehen, dich.
C: Was glaubst du, was ich hier tu?
S: Was? Eine Fremde aus dem Westen? Spitzeln willst du oder wie kämst du sonst hier vor mich?
C: Ich bin deine neue Herrin und throne über dir in diesem Turm.
S: So, Herrin schimpfst du dich, Kröte von einer Cholera, Kinderfresserin. Vor einer Woche sah ich dich anschleichen, so klein unter deinem Hut. Da hieß ich noch Schwester und gib, gib, Herrin, das.
C: Es scheint, dir geht´s gut. Was hast du aufzutischen?
S: Was gutes. Hier wird gut gelebt, merk dir das.
C: So. Und was hattest du Sonntag Palmarum im Topf? Was Grünes, wie, und was Fleischiges? War´ns Brennesseln, war´s eine Laus, die in deinen Topf fiel?
S: Das geht dich einen feuchten Schmutz an. Ich bin vielleicht eine schlechte Stadt, aber ein guter Mensch. Komm nur herunter. Es gibt Schweinebraten und Salat. Ja!
C: Dafür ist auch Ostern.
S: Schweine-Ostern, Sau-Ostern, Brennessel-Ostern, Salat-Ostern, Lause-Ostern, Lause-Ostern. Siehst du meine Bäume wie die Besen stehen, als wärst du darauf geritten, die Hexe. Das nennst du eine Ostern? Ich bin anderes gewöhnt.
C: Schelt mich nicht. Ich kann nicht alles auf einmal. Aber das werd´ ich auch noch hinkriegen. Schau nur, komm herauf! Hier sieht man besser.
S: wahrhaftig. Diese Turmziege hat recht. Das ist ja ein Unkraut, das zu Berge sprießt. Das ist ein Blattlausparadies, das du da mit deinen krummen Fingern herausgekitzelt hast. Aber es ist nicht, was ich nicht wollte.

Die Stadt nahm das Grün und riß es wieder aus. Sie band es zu einem wild-wüsten Strauß zusammen, das Unkraut und das gelbe Gras von gestern und das Ostergrün der Bäumlein. Sie knotete den Busch mit den Zähnen zusammen. Sie sagte, die Stadt:

S: Falls du es vergessen haben solltest, Cholera, Schlafmütze, es ist Ostern.
C: Was du noch willst. Ich habe vieles geschaffen auf eins. Das andere wird kommen, wie es will.

Die Cholera reichte die Hand herunter, den zierlichen Strauß zu empfangen. Ostergruß, Schwestergruß, Siegeszeichen, verliehen der mildtätigen Besatzerin über der Stadt.

Das ist alles, was bisher geschah. Heute ist Ostermontag in Berlin im Jahre des Herrn Eintausendneunhundertsechzigundzwo. Ich sitze unter dem Turm, die Cholera über mir und ich beendige die Schrift. Ich danke der Cholera und mit Scham denn sie tat, was mein unter meinigen Arbeit gewesen wäre.
Gott und die Seuche seien uns weiterhin gnädig und gnädig der Welt, der all die Wunder der Osterwoche verborgen blieben und mögen uns schützen vor dem Feind.



Rias Berlin brachte ein Hörspiel von Christa Reinig, "Kleine Chronik der Osterwoche"

Die Personen und ihre Darsteller:

Chronist
Die Cholera
Das Soldatchen
Der Offizier
Oberarzt
Unterarzt
Die Mutter
Der Kommissar
Der Priester
Student Buddha
Student Moses
Student Mohammed
Der Messerstecher
Der Herr
Der Sohn
Das Tyrannlein
Die Stadt




Aufnahmeleitung
Schnitt
Ton
Regie
Wilhelm Borchert
Ruth Hausmeister
Heinz Peter Scholz
Friedrich Webau-Schulte
Werner Stock
Heinz Rabe
Charlotte Jöris
Herbert Weisbach
Eduard Wandrei
Frank Glaubrecht
Dieter Marcello
Joachim Ansorge
Klaus Herm
Hermann Schindler
Christian Rode
Martin Hirte
Lili Schönbohm-Ansbach, Waltraud Schmal, Helga Röske, Gerhard Sor, Helmut Ahner und Peter Schiff

Ingeborg Karl
Christa Strachel
Gerd Bartzin
Gerd Westphal